Farben hören – Töne sehen

Mikalojus Čiurlionis
©S. Fleury
Wenn wir Schnupfen haben, schmecken wir fast nichts. Wenn wir im Dunkeln sitzen, hören wir Musik wie Wärmestrahlung mit der Haut. Unsere Sinne bilden eine Einheit, die wir oft nur bemerken, wenn eines unserer Organe ausgeschaltet ist. Der Forscher Erich Moritz von Hornbostel prägte 1927 den Begriff »Geruchshelligkeit«. Er hatte durch Experimente herausgefunden, wie eng Nase, Auge und Ohr verbunden sind: Jeder Mensch könne auf dem Klavier den Ton zeigen, der so hell ist, wie Flieder duftet. Dennoch sind Künstler selten, die in mehreren Disziplinen über eine gleichrangige Begabung verfügen. Der Litauer Mikalojus Konstantinas Čiurlionis war so eine Ausnahme. Er konnte Farben hören und Töne sehen. Eins griff bei ihm ins Andere. Als Komponist wie als Maler wurde er gleichermaßen bedeutsam.
Wo Memel und Neris zusammenfließen, unweit eines riesigen Stausees, liegt Kaunas, die zweitgrößte Stadt Litauens. Hier steht ein wuchtiger Bau, der das Kostbarste und Verletzlichste der heimischen Kunst birgt: die lichtempfindlichen, kaum reisetauglichen Gemälde und Grafiken von Čiurlionis. Man hat ihm ein Nationalmuseum errichtet, denn er ist die wichtigste Symbolfigur für die Kultur des Landes.
Čiurlionis kam am 22. September 1875 zur Welt und wuchs in Südlitauen auf, einer wald- und wasserreichen Landschaft zwischen Memel und Szeszuppe. Čiurlionis’ Vater war Organist. In der Kindheit des Jungen durchdrangen sich Musik, Natur und alte heidnische Bräuche, die immer zur Sommersonnenwende hervorbrachen. Diese märchenhafte Welt taucht später in Čiurlionis’ Bildern auf, durchsetzt von den Ornamenten litauischer Volksschnitzerei. Doch das größte Naturerlebnis erwartete ihn, als er mit dem Schulorchester des polnischen Grafen Michał Ogiński nach Palanga kam: die Ostsee. Das Meer wurde fortan für ihn zum Lebenssymbol schlechthin.
»Ich möchte eine Sinfonie schreiben aus dem Murmeln der Wellen, dem geheimnisvollen Flüstern eines hundertjährigen Waldes, aus dem Funkeln der Sterne, aus unseren Liedern und meiner endlosen Sehnsucht«, schrieb er 1908.
Čiurlionis studierte an den Konservatorien in Warschau und Leipzig und war zunächst der Musik Chopins und Tschaikowskys verbunden. Seine sinfonische Dichtung »Im Walde« markierte 1901 der Beginn litauischer Orchestermusik. Zwischen 1903 und 1907 entstand dann »Das Meer«, formal und orchestertechnisch inspiriert von Richard Strauss, den er emphatisch bewunderte. Ab 1904 engagierte sich Čiurlionis in der litauischen Nationalbewegung, sammelte Volkslieder, ging jedoch in seiner eigenen Musik einen Weg, der ihn aus der Dur-Moll-Tonalität hinausführte. Seine späten Stücke für Klavier arbeiten mit freien Reihenbildungen und Akkorden, die an die gleichzeitigen Experimente von Alexander Skrjabin erinnern.
Ab 1902 hatte Čiurlionis zu malen begonnen. Der westeuropäische Symbolismus mit seinen Bildern, die rational nicht zu enträtseln waren, hatte ihn beeindruckt. Doch Čiurlionis liebte das Düstere und Bedrückende dieser Rätsel nicht. Ihn zog es zum Licht, zum Leben, zur Ekstase einer kosmischen Sinn-Erfahrung. Das Studium altindischer Philosophie und vergleichender Religionswissenschaft ging in seine Bilder ein. Vor allem aber folgten sie der Musik. Er schuf mehrteilige Gemäldezyklen wie »Sternensonate«, »Pyramidensonate« oder »Meeressonate«, die durch gemeinsame Motive miteinander verbunden sind, wie die Sätze einer Sinfonie. Zudem versuchte Čiurlionis, die Polyphonie als Zusammenklang unabhängiger Stimmen ins Bild zu übersetzen. So entstanden jene Traumvisionen, die wie Überlagerungen gemusterter Schleier aussehen. Es sind Weltschöpfungsberichte, in denen sich Außenräume zu Innenräumen einkrempeln, Erdkrusten zu Himmelsgewölben werden und Wolken zu Höhlendecken.
Čiurlionis schien endlich Glück zu haben, als man in Sankt Petersburg seine Kunst zu schätzen begann und er eine Familie gründen konnte. Doch wie seine Tochter aufwuchs, erlebte er nicht lange mit. Die extreme Anspannung der Jahre 1904 bis 1909, als fast sein gesamtes malerisches Werk entstand, führte zu einer Erschöpfung, die Anfang 1910 in schwere Depressionen umschlug. Seine Familie brachte ihn in ein Sanatorium bei Warschau. Im Frühling 1911 fand man den Fünfunddreißigjährigen verwirrt und unterkühlt im Wald. Er starb am 10. April 1911 an den Folgen einer Lungenentzündung.
Jan Brachmann